Taijiquan – Intelligenz in Bewegung

Als Anfänger des Taijiquan beginnt man mit dem Erlernen der „Langsamen Form“. Obwohl die Form aus einer Reihe von Kampfkunstbewegungen besteht, fordert Ma Jiangbao, dass man bei ihrer Übung nicht an die Anwendungen der Bewegungen denken soll. Aber gerade weil die Bewegungen aus der Kampfkunst stammen, sind sie von rationaler Intelligenz geprägt.

Erfährt man diese bewusst im Taijiquan, kann man sie auch in seinen Alltag mitnehmen. Einige Beispiele sollen im folgenden diskutiert werden:

– Die Belastung selbst bestimmen

Solange bei Xu Bu die Knie nebeneinander sind, stehe ich richtig – wie tief ich stehe, also wie anstrengend es wird, bestimme ich allein. Auch bestimme ich die Lerngeschwindigkeit: wieviel Zeit gestatte ich mir, um eine bestimmte Bewegung/Sequenz/Form zu erlernen und wie präzise soll sie sein? Will ich zur Bewegung auch den deutschen und/oder chinesischen Namen lernen? Kulturelle und philosophische Hintergründe? Und so weiter. Die Kontrolle darüber, wieviel der von inneren und äußeren Einflüssen (hauptsächlich von anderen Menschen) uns „angebotenen“ Belastung (Stress, Druck) wir annehmen, liegt bei uns selbst. Diese Tatsache zu akzeptieren ist gesund, sie zu leugnen macht krank.

– Nicht mehr tun als nötig

Zusätzliche Bewegungen einzufügen ist der häufigste Fehler beim Üben der Form, z.B. nach Yu Bei Shi (Vorbereitung) werden nicht nur die Hände waagerecht gehalten, sondern zusätzlich die Ellbogen zur Seite oder nach hinten oder die Arme nach vorne oder hinten oder die Schultern nach oben gezogen. Beispiele aus dem Alltag: Bei der Schreibtischarbeit (z.B. am Computer) werden zusätzlich die Schultern hochgezogen, die Stirn gerunzelt, die Zähne aufeinander gepresst und ähnliches. Dies alles ist zusätzliche, unnötige Arbeit.

– Nicht zuviel des Guten tun

Ein ähnlicher Fehler liegt im Übertreiben von eigentlich richtigen Bewegungen: tief stehen, z.B. in Xu Bu, ist zwar gut, aber nicht so tief, dass die Knie nicht mehr nebeneinander sind. Bei Lan Que Wei (Spatzenschwanz) den Oberkörper nach rechts drehen, aber nicht weiter, als bis der rechte Arm geradeaus zeigt. Ebenso bei Bai He Liang Chi (Kranich) den Oberkörper nicht zu weit drehen usw. Aus dem Alltag kennen wir das Durchtreten des Bremspedals, obwohl das Auto längst steht, ebenso das Festklammern des Lenkrads über das erforderliche Maß hinaus uvm. In diese Kategorie fällt auch die sogenannte Überfürsorge mancher Eltern, das Versalzen von Speisen usw. Bei den Partnerübungen (Tui Shou) wird der Partner diesen Fehler sofort zu seinem Vorteil nutzen, denn „vis consili expers mole ruit sua.“ (Kraft ohne Weisheit stürzt durch die eigene Wucht.
Horaz)

– Die Schwerkraft respektieren

Unveränderliches zu akzeptieren fällt Menschen merkwürdigerweise ungeheuer schwer. Wie leicht vergessen wir, dass die Erdanziehungskraft in jeder Sekunde des Lebens an uns zieht – und immer in dieselbe Richtung. Um Schäden an Knochen, Muskulatur und Nerven zu vermeiden, sollte der Schwerpunkt zu jeder Zeit innerhalb der Auflage- bzw. Standfläche sein. Als Beispiel aus der Form könnte jede beliebige Position dienen, herausgegriffen sei hier die Kopfhaltung: da der Kopf hinter seinem Schwerpunkt auf der Wirbelsäule ruht, darf man auf keinen Fall das Kinn nach vorne schieben oder den Kopf auch nur leicht in den Nacken legen! Scheitelpunkt nach oben, Kinn leicht zurück, Blick leicht abwärts! (vgl. hierzu das Themenheft „Taijiquan und Gesundheit“). Als Beispiel aus dem Alltag sei auf die Idee verwiesen, weder innerlich (Gedanken, Wollen) noch äußerlich gegen Dinge anzukämpfen, die wir gar nicht beeinflussen können. Diesen Gedanken hatte auch schon Cicero: „Legum servi sumus, ut liberi esse possimus.“ (wörtlich: Wir sind Sklaven der Gesetze, um frei sein zu können.)

– Fähigkeiten und Kräfte optimal einsetzen

Bei Arbeit bzw. Belastung, die über das Balancieren des eigenen Gewichtes hinausgeht (schwergängige Tür, Getränkekiste, Umzug) sollte die Härte der Knochen genutzt werden. Bei Bewegungen wie Lou Xi Ao Bu (Schritte vorwärts), Dao Nian Hou (Schritte rückwärts) u.a. wird der Körper zwischen Gegner (vordere Hand) und Erdboden (hinterer Fuß) in der Weise ausgespannt, dass die Knochen dazwischen nur noch einigermaßen gerade gehalten werden müssen, um die Kraft der Beinstreckermuskeln optimal übertragen zu können. Daher Lasten eng am Körper tragen usw. Ein gutes Modell für dieses Prinzip ist ein Zollstock: wenn ich damit piken will, müssen seine Gelenke gerade stehen. Dan Bian (einzelne Peitsche) ist ein Beispiel dafür, dass in der Form Hände und Füße zu jeder Zeit miteinander verbunden sind. In der Position am Ende von Ti Shou Shang Shi (die Hand heben und nach vorne, Position vor Bai He Liang Chi) gibt es nur einen richtigen Ort für die obere Hand: dort wo der ganze Körper unter der von oben wirkenden Kraft steht. Jede kleine Abweichung führt zu einem Zusammenbruch der Statik. Warum sollte ich einen Schlag mit Muskelkraft blocken, wo der Oberarmknochen das viel besser kann? Dies kann aufgefasst werden als Sinnbild dafür, dass wir unsere Kräfte und Fähigkeiten an der richtigen Stelle und auf die richtige Weise benutzen sollten.

– „Zusammen fertig“

Nur Kräfte, die gleichzeitig wirken, addieren sich in ihrer Wirkung. Wenn ich etwas Schweres schubsen will, aber erst die Beine, dann die Hüfte strecke, danach den Arm nach vorn bewege und anschließend den Ellbogen strecke, wirkt sich nur die (geringe) Kraft des Armstreckers aus. Eine Überlagerung und damit Addition der Kräfte erreiche ich nur durch korrektes Timing: Hand – Rumpf – Fuss – zusammen fertig. In der Form gibt es nur Ganzkörperbewegungen, bzw., da der Geist ja auch mitmacht, Ganzmenschbewegungen. Dieses Prinzip ist u.a. in der realistischen Selbstverteidigung (= der Gegner ist stärker) essentiell: die vielen Kräfte, über sie ich verfüge (Muskelkräfte, Willenskraft, Ausdauer, Mut, Verstandeskraft, Stimmkraft, Wissen, Vorstellungskraft, Kampfkraft usw.), müssen gleichzeitig wirken, da sie vereinzelt nicht ausreichen.

– Den richtigen Abstand selbst einstellen

Im japanischen Karate gibt es den Fachbegriff ma-ai, die harmonische Entfernung, den richtigen Abstand. Bei der ersten Drehung nach rechts (zwischen Tai Ji Qi Shi und Lan Que Wei) ebenso wie bei der 90 Grad-Drehung nach links (Lou Xi Ao Bu) dreht sich die Schulter von der Hand weg, die im Raum stehen bleibt, während der Arm sich streckt. Egal wie stark oder unbeweglich mein Gegenüber ist, ich kann den richtigen Abstand selbst bestimmen, indem ich mich bewege. Beispiel 1 aus der Selbstverteidigung: Der Gegner steht hinter mir und fasst meine Handgelenke. Ich gehe zurück, bis meine gestreckten Arme neben meinem Körper sind und gehe in die Knie („mache mich schwer“). Es würde mir nicht gelingen, den Gegner zu mir hin zu ziehen. Beispiel 2: der Gegner steht vor mir und erfasst mein Handgelenk. Ich lasse seinen Griff wo er ist, bewege mich um ihn herum auf den Angreifer zu und mache einen Gegenangriff. Verallgemeinert kann man sagen, dass man nicht reagieren, sondern selbst das Richtige tun sollte. Diese Idee wurde z.B. durch Mahatma Gandhi berühmt, der immer für die Freiheit Indiens, niemals gegen die britischen Besatzer kämpfte (er nannte das „satyagraha“ – die Kraft der Wahrheit).

– Immer üben

Tai Chi ist nur gesund ist, wenn man es TUT, nicht wenn man es KANN. Viele Schüler, typische Mitteleuropäer, kommen mit dem Wunsch, „Tai Chi zu lernen“ in den Unterricht. Nun besitzt die langsame Form aber die Klugheit, so dermaßen schwierig und detailreich zu sein, dass ein Leben nicht ausreicht, um sie perfekt zu erlernen. Gäbe es den „Nürnberger Trichter“ und wir beherrschten plötzlich jede Bewegung von jeder Form – unsere Gesundheit würde von diesem Wissen nicht profitieren, wir müssten immer noch aufstehen und ÜBEN. Der Ausdruck „Kung Fu/Gong Fu“ (wörtlich übersetzt: „Arbeit“ und „Zeit“) meint dieselbe Idee, die Vergil vor mehr als 2000 Jahren niederschrieb: “labor vincit omnia improbus” – wer sich bemüht, überwindet alle Schwierigkeiten.