Die FBI-Regel

Im Ausbildungshandbuch der FBI-Kadetten steht im Kapitel „Selbstverteidigung“ der Leitsatz

„Meine Stärken gegen seine Schwächen“.

Wer diesen klugen Rat befolgen will, muss zwei Dinge wissen: Was sind meine Stärken, und was sind seine Schwächen?


A) Meine Stärken

Zur Selbstverteidigung stehen uns VIELE verschiedene Abwehrkräfte zur Verfügung. Die wichtigsten sind:

1. Vernunft, die Fähigkeit, Probleme zu lösen
2. Wissen (im Gedächtnis gespeicherte Problemlösungen)
3. soziale Kompetenz
4. Muskelkräfte
5. Kraft der Gefühle
6. Stimmkraft
7. Sinne (Sehkraft, Schmerz usw.)
8. Auftreten, Körpersprache, auch mein Image bei den Berufskollegen oder Schulkameraden
9. Ausdauer, auch seelisches Durchhaltevermögen
10. Mut, Kampfgeist, unbeugsamer Wille
11. Vorstellungskraft

Zwar mag es so sein, dass diese Kräfte einzeln alle zu schwach sind, um den Angreifer zu vertreiben. Schaffen wir es jedoch, möglichst viele davon und zwar GLEICHZEITIG einzusetzen, wird jeder Angreifer schockiert sein über die enorme Stärke unserer Gegenwehr.


zu 1: Vernunft
Meine Intelligenz befähigt mich, mich der gegenwärtigen Situation anzupassen: Was ist jetzt schlau? Was ist gut für mich, was muss ich jetzt tun? Wer kann mir helfen? Was ist ein möglicher Ausweg bzw. wo ist ein Fluchtweg?
Welche Schwachstellen hat der Angreifer? Wie kann ich die Erdanziehungskraft, wie kann ich Hebelkräfte nutzen?
Welcher Alltagsgegenstand kann mir als Waffe dienen? Usw.

zu 2: Wissen
Alles was ich in Kursen, aus Büchern und durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen gelernt habe, kann ich benutzen. Der US-amerikanische Polizeiausbilder Sanford Strong bezeichnet die geistige Vorbereitung (mind-set) als die allerwichtigste Grundlage des Überlebens. Nur mein Wissen hindert mich daran, die typischen Anfängerfehler zu machen und mich so zu verhalten, wie bereits alle anderen Opfer, die dieser Angreifer je hatte.
Wenn ich weiß, was gefährliche Situationen sind, kann ich sie leichter vermeiden (Was ist ein „guter“ Tatort? Soll ich wirklich diese Abkürzung gehen, obwohl sie durch eine menschenleere Gegend führt?).
Es ist sehr wichtig, niemals die Zuversicht zu verlieren; dabei hilft mir das Wissen, dass ich den Angreifer nicht besiegen muss. Usw.

zu 3: soziale Kompetenz
Die Fähigkeit, Freundschaften zu schließen; die Fähigkeit, brenzlige Situationen zu deeskalieren; die Fähigkeit, Menschen dazu zu bringen, mir oder Anderen zu helfen; die Fähigkeit, Autoritäten (Eltern, Lehrer, Chef, Polizei/Richter usw.) auf meine Seite zu ziehen; in einer Gruppe (Schulklasse, Arbeitskollegen usw.) hohes Ansehen zu genießen; all dies erhöht meine Sicherheit.

zu 4: Muskelkräfte
Auch bei der Offensichtlichsten unserer Kräfte müssen wir darauf achten, die verschiedenen Muskeln nicht isoliert, sondern in „großen“ Ganzkörperbewegungen einzusetzen. Auch dies erfordert Übung.

zu 5: Kraft der Gefühle
So wie eine Tiermutter ihr Junges verteidigt, so können wir uns auch selbst verteidigen. Die Evolution hat uns mit einer Super-Turbo-Kraft beschenkt, die unsere Urahnen für Begegnungen mit wilden Tieren entwickelt haben: die „Flüchten oder Kämpfen“-Stressreaktion. Wir zittern, fangen an zu schwitzen, die Atmung wird flacher und schneller (dadurch nehmen wir mehr Sauerstoff ins Blut auf), Fettreserven werden aufgelöst (Fett ist ein wichtiger Energiespeicher), das Herz schlägt schneller und stärker (um Sauerstoff und Energieträger effektiv zu den Organen zu transportieren) und vieles mehr. Die dazu passenden Flucht-Gefühle („ich will hier weg“) nennen wir „Angst“. Wenn wir aber nicht fliehen können, müssen wir uns anpassen und auf Gegenwehr umschalten. Die zur Stressreaktion passenden Kampf-Gefühle („so eine Unverschämtheit und Gemeinheit!“) fassen wir als Wut zusammen (die körperlichen Zeichen sind dieselben). Mit etwas Gedanken-Training lässt sich Angst in Wut, und Wut in reine Power verwandeln.

zu 6: Stimmkraft
Mit meiner Stimme mache ich andere Menschen auf die Tatsache aufmerksam, dass jemand gerade ein Verbrechen an mir verübt; ich nehme ihm die Ausrede „Ich dachte, sie hätte nichts dagegen“, usw. Frieden stiften ist ebenfalls eine Selbstverteidigungs-Technik, für die ich meine Stimme brauche. Mehr dazu hier: Link zu „Benutze Deine Stimme!“

zu 7: Sinne (Sehkraft, Schmerz usw.)
Die beste Selbstverteidigungstechnik der Welt, die nämlich immer funktioniert: nicht angegriffen zu werden. Um Gefahren vermeiden zu können, müssen wir den Mitteilungen unserer Sinnesorgane Aufmerksamkeit schenken: Sind die Kratzer am Haustürschloss neu? Sollte ich an diesen jugendlichen Besoffskis vorbeigehen – oder frühzeitig die Straßenseite wechseln? Auch Rauchmelder, Alarmanlagen, Gasgeruch, sich von hinten nähernde Schritte usw. sollte ich beachten. Schädigungen des Organismus zu vermeiden kann als Hauptaufgabe unserer Sinne behauptet werden. In diesem Sinne sind auch Angst und Schmerz gute und wichtige Abwehrkräfte.

zu 8: Auftreten, Körpersprache
Wer Zuversicht ausstrahlt, wird nicht so schnell angegriffen wie jemand ohne Zuversicht („Hoffentlich passiert mir nichts“) . Wer ängstlich und schwach wirkt, trägt auf der Stirn die Leuchtreklame „Wer mich angreift, braucht mit ernsthafter Gegenwehr nicht zu rechnen“. Martin Luther riet „Tritt fest auf! Mach’s Maul auf!“ Dem schließe ich mich an. Bei etwa 75 Prozent der Gewaltverbrechen kennen sich Täter und Opfer. Daher ist mein Image, also das Bild, das meine Familienmitglieder, Berufskollegen oder Klassenkameraden von mir haben, sehr wichtig („Heulsuse“, „Weichei“ oder „Vorsicht, Finger weg“). Daher dürfen Eltern ihren Kindern niemals verbieten, sich im Notfall auch mit Schlagen und Treten zu wehren!

zu 9: Ausdauer, auch seelisches Durchhaltevermögen
Beim Ertragen von Schmerzen, beim Weglaufen usw. zeigt sich meine Belastungsfähigkeit, ebenfalls eine geistige/innere Kraft. Schwierige Situationen, die ich nicht ändern kann, muss ich aushalten, ohne dauerhaften Schaden zu nehmen. Unveränderliches zu akzeptieren fällt vielen Menschen enorm schwer und muss geübt werden.

zu 10: Mut, Kampfgeist, unbeugsamer Wille
Es gibt Gedanken, die mich stärker machen, und es gibt Gedanken, die mich schwächer machen. Einer der häufigsten Verlierer-Gedanken ist „Da kann man nichts machen“. Wer aufgibt verliert! Nicht der Schwächere, Kleinere o.ä. Viele geben bereits vor dem Kampf auf: „Der ist sowieso stärker, da hab ich sowieso keine Chance…“ Mit der Einstellung sicher nicht!

zu 11: Vorstellungskraft
In meiner Phantasie kann ich mich verwandeln, z.B. in eine wildgewordene Wildkatze, einen überaus wütenden Grizzlybären, in eine „wandelnde Feuersäule“ (Kh. Quinn), oder was immer mir hilft, ALLE meine Kräfte zu benutzen und zwar GLEICHZEITIG.


B) Seine Schwächen

Die Schwachpunkte des Angreifers lassen sich drei Gruppen einteilen:
1. Die Schwachpunkte, die Jeder hat
2. Die Schwachpunkte, die jeder Angreifer hat
3. Die Schwachpunkte, die durch den spezifischen Angriff entstehen

zu 1: Schwachpunkte, die Jeder hat
Die vier besten Stellen für einen Gegenangriff (vorausgesetzt dies ist durch den Angriff gerechtfertigt) sind: Augen, Nase, Hals, Unterleib. Je nach Gefährlichkeit des Angriffs kann man gegen die Augen drücken oder stechen (Finger, Brille, Kugelschreiber…), mit dem Fingernagel kratzen usw. Auch gegen Nase und Hals kann man drücken oder stechen, die Hoden quetschen oder dagegen schlagen oder treten – je nachdem, welche Ansprache der Täter benötigt.
Außer der Nase sind viele weitere Stellen schmerzempfindlich, an denen die Knochen direkt unter der Haut liegen, z.B. Zehen, Spann, Knöchel, Schienbein, Knie, Schambein, Rippen, Wirbel, Handrücken, Jochbein, Schläfe usw.
Drei Stellen eignen sich bestens für Kneifen: die Innenseite des Oberarms, die Innenseite des Oberschenkels und die Rückseite des Oberschenkels (besonders im Bodenkampf gut zu erreichen).
(Wem sowas Spaß macht, kann im Kampfsporttraining lernen, weitere Schwachstellen auszunutzen: seine Gelenke, die man hebeln kann, sein labiles Gleichgewicht, das man brechen kann und bestimmte Nervenpunkte.)

zu 2: Schwachpunkte, die jeder Angreifer hat
– seine Angst, erwischt zu werden nutze ich, indem ich laut werde, Helfer und Zeugen herbeirufe, Öffentlichkeit herstelle usw.
– seine Angst, verletzt zu werden nutze ich, indem ich ihm Schmerzen zufüge

zu 3: Schwachpunkte, die durch den spezifischen Angriff entstehen
Wenn er mich von vorne am Hals würgt, steht er frontal und ohne jede Deckung vor mir, während ich beide Arme und beide Beine frei habe. Wenn er mich am Arm ergreift, kann ich bestimmte Hebeltechniken machen. Wenn er mit einem Tritt angreift, kann ich sein Standbein fegen usw.


Wir können die FBI-Regel nun so formulieren:
Meine VIELEN Stärken gegen seine VIELEN Schwächen